54
Ich muss herrschen mit Augen und Klauen – wie der Falke unter den niederen Vögeln.
Herzog Paulus Atreides,
Grundsätze der Atreides
Herzog Leto Atreides. Herrscher des Planeten Caladan, Mitglied des Landsraads, Oberhaupt eines Großen Hauses ... Diese Titel bedeuteten ihm gar nichts. Sein Vater war tot.
Leto fühlte sich so klein. In seiner Trauer und Verwirrung war er überhaupt nicht für die Bürde bereit, die man ihm mit nur fünfzehn Jahren auf so grausame Weise aufgelastet hatte. Als er im unbequemen, viel zu großen Stuhl saß, auf dem der stürmische alte Herzog so oft Hof gehalten hatte, fühlte sich Leto völlig fehl am Platze, wie ein Hochstapler.
Ich bin noch nicht bereit, Herzog zu sein.
Er hatte eine offizielle Trauerzeit von sieben Tagen angeordnet, in denen es ihm gelang, den schwierigsten Aufgaben als Oberhaupt des Hauses Atreides aus dem Weg zu gehen. Es war schon beinahe zu viel für ihn, einfach nur die Kondolenzen der anderen Großen Häuser entgegenzunehmen ... insbesondere den förmlichen Brief von Kaiser Elrood IX., der zweifellos von seinem Kammerherrn geschrieben, aber von der zitternden Hand des alten Mannes unterzeichnet war. »Ein großer Mann des Volkes ist von uns gegangen«, hieß es darin. »Ich bekunde mein aufrichtiges Beileid und bete für Ihre Zukunft.«
Aus einem unerfindlichen Grund klangen diese Worte für Leto wie eine Drohung – vielleicht war es ein Unheil verkündender Strich in der Unterschrift oder etwas in der Wahl der Worte. Leto hatte den Brief sofort im Kamin seines Privatgemachs verbrannt.
Am wichtigsten waren für ihn die Gesten der Trauer, die ihm das Volk von Caladan entgegenbrachte: frische Blumen, Körbe voller Fisch, bestickte Fahnen, Gedichte und Lieder, Schnitzereien und selbst Zeichnungen und Gemälde, die den alten Herzog darstellten, zumeist in Siegerpose in der Stierkampfarena.
Wenn er allein war und niemand seine Schwäche sehen konnte, weinte Leto. Er wusste, wie sehr das Volk Herzog Paulus geliebt hatte, und er erinnerte sich an das Gefühl der Macht, das er an jenem Tag verspürt hatte, als sein Vater und er gemeinsam mit der Stiertrophäe auf der Plaza de Toros standen. Damals hatte er sich danach gesehnt, selbst zum Herzog zu werden, hatte die Liebe und Treue des Volkes empfunden. Das Haus Atreides!
Jetzt wünschte er sich irgendein völlig anderes Schicksal.
Lady Helena hatte sich in ihre Gemächer eingesperrt und ließ keine Diener zu sich, die sich um sie kümmern wollten. Leto hatte niemals viel Liebe oder Zuneigung zwischen seinen Eltern beobachtet, und im Augenblick konnte er nicht sagen, ob die Trauer seiner Mutter aufrichtig oder nur vorgetäuscht war. Die einzigen Menschen, die sie einließ, waren ihre Priester und religiösen Berater. Helena klammerte sich an die unterschwelligen Bedeutungen, die sie den Versen der Orange-Katholischen Bibel entrang.
Leto hatte erkannt, dass er sich nur aus eigener Kraft aus dem Sumpf ziehen konnte. Er musste seine eigenen Energiequellen anzapfen und sich der Aufgabe stellen, Caladan zu verwalten. Herzog Paulus hätte Leto getadelt, weil er den Kopf hängen ließ und sich nicht unverzüglich den Prioritäten seines neuen Lebens zuwandte. »In deiner Freizeit kannst du trauern, Junge«, hätte er gesagt, »aber in der Öffentlichkeit darf sich das Haus Atreides kein Anzeichen der Schwäche erlauben.«
Leto schwor sich stumm, sein Bestes zu geben. Dies war zweifellos nur das erste von vielen Opfern, die er in seiner neuen Stellung bringen musste.
Prinz Rhombur kam zu ihm, als er im schweren Herzogstuhl im leeren Audienzsaal saß. Leto grübelte, während er auf ein großes Gemälde starrte, das ihm gegenüber an der Wand hing und seinen Vater in voller Ausstattung als Matador darstellte. Rhombur legte seinem Freund eine Hand auf die Schulter und drückte sie. »Leto, hast du schon etwas gegessen? Du musst bei Kräften bleiben.«
Leto atmete tief durch und wandte sich seinem Gefährten von Ix zu. Rhomburs breites Gesicht war von Sorge gezeichnet. »Nein, ich habe noch nichts gegessen. Würdest du mir beim Frühstück Gesellschaft leisten?« Steif erhob er sich vom unbequemen Stuhl. Es wurde Zeit, dass er sich um seine Pflichten kümmerte.
Thufir Hawat stieß während der Mahlzeit zu ihnen, die daraufhin mehrere Stunden in Anspruch nahm, weil sie Pläne und Strategien für den Regierungswechsel entwickelten. Während einer Diskussionspause neigte der Krieger-Mentat den Kopf und erwiderte Letos Blick. »Falls ich es noch nicht deutlich gemacht habe, Herzog, will ich Sie meiner uneingeschränkten Loyalität versichern und meinen Treueschwur gegenüber dem Haus Atreides erneuern. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um Sie zu unterstützen und zu beraten.« Dann wurde sein Gesichtsausdruck härter. »Aber Sie müssen sich bewusst machen, dass jede Entscheidung einzig und allein bei Ihnen liegt. Mein Rat mag im Widerspruch zu dem von Prinz Rhombur oder Ihrer Mutter stehen – oder anderer Berater, an die Sie sich wenden. Die Entscheidung müssen Sie treffen. Sie sind der Herzog. Sie sind das Haus Atreides.«
Leto zitterte, als er spürte, wie die Verantwortung über seinem Kopf schwebte, wie ein Gilde-Heighliner, der jeden Moment abstürzen konnte. »Dessen bin ich mir bewusst, Thufir, und ich werde jeden Rat brauchen, den ich bekommen kann.« Er setzte sich aufrecht hin und trank süße Sahne aus der Schale mit warmem Pundi-Reis-Pudding, der von einem Koch zubereitet worden war, der wusste, dass er es als kleiner Junge am liebsten gegessen hatte. Doch jetzt schmeckte es ganz anders; seine Geschmacksnerven schienen wie betäubt.
»Was hat die Untersuchung des Todes meines Vaters ergeben? War es wirklich ein Unfall, wie es den Anschein hat? Oder sollte es nur so aussehen?«
Auf dem ledrigen Gesicht des Mentaten erschien ein besorgter Ausdruck. »Ich zögere, es auszusprechen, Mylord, aber ich fürchte, es handelt sich um Mord. Immer mehr Beweise deuten auf einen hinterhältigen Plan hin.«
»Was?«, sagte Rhombur und schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein Gesicht wurde rot. »Wer hat den Herzog ermordet? Und wie?« Seine Zuneigung galt nicht nur Leto, sondern auch dem Atreides-Patriarchen, der ihm und seiner Schwester Zuflucht gewährt hatte. Rhombur hatte das unangenehme Gefühl, dass das Motiv möglicherweise in einer Bestrafung des alten Herzogs lag, weil er sich freundlich zu den ixianischen Flüchtlingen verhalten hatte.
»Ich bin der Herzog, Rhombur«, sagte Leto und legte eine Hand auf den Unterarm seines Freundes. »Ich werde mich um diese Angelegenheit kümmern.«
Leto glaubte beinahe zu hören, wie das Räderwerk im komplexen Geist des Mentaten arbeitete. Hawat sagte: »Eine chemische Analyse des Muskelgewebes des salusanischen Stiers ergab Spuren zweier Drogen.«
»Ich dachte, die Tiere würden vor jedem Kampf untersucht.« Leto kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, doch er konnte nicht verhindern, dass ihn eine Kindheitserinnerung überkam – wie er die gewaltigen Stiere in den Ställen besucht und der glupschäugige Stallmeister Yresk ihm zum Entsetzen der Stalljungen erlaubt hatte, sie zu füttern. »War unser Veterinär an der Verschwörung beteiligt?«
»Die Tests wurden wie üblich durchgeführt, vor dem paseo.« Thufir verzog die rotgefleckten Lippen und tippte mit den Fingern auf den Tisch, während er seine Gedanken ordnete und zu einer Antwort gelangte. »Bedauerlicherweise waren die vorgeschriebenen Tests in diesem Fall wirkungslos. Der Stier wurde durch ein starkes Stimulans erregt, das in seinem Körper in zeitlich begrenzten Dosen abgegeben wurde und sich im Verlauf mehrerer Tage konzentrierte.«
»Das hätte nicht genügt«, sagte Leto. »Mein Vater war ein guter Stierkämpfer. Der beste.«
Der Mentat schüttelte den Kopf. »Das Tier hat außerdem ein Mittel bekommen, mit dem das Nervengift in den banderillas neutralisiert wurde. Gleichzeitig löste genau diese Reaktion die Freisetzung des Stimulans aus. Wenn der Stier eigentlich gelähmt sein sollte, wurde er stattdessen aufgeputscht. Er wurde zu einer noch gefährlicheren Tötungsmaschine, während die Kräfte des alten Herzogs allmählich nachließen.«
Leto machte ein finsteres Gesicht. Wütend sprang er vom Frühstückstisch auf und blickte zum allgegenwärtigen Giftschnüffler hinauf. Er ging auf und ab und ließ seinen Reispudding kalt werden. Dann drehte er sich um und rief sich alle Techniken der Herrschaft ins Gedächtnis, die er gelernt hatte, als er sagte: »Mentat, ich möchte Ihre beste Extrapolation. Wer würde so etwas tun?«
Thufir erstarrte, als er in den Mentaten-Modus wechselte. Daten flossen durch den Computer in seinem Schädel – ein menschliches Gehirn, das die Fähigkeiten der alten, verhassten Feinde der Menschheit simulierte.
»Die höchste Wahrscheinlichkeit hat ein persönlicher Angriff durch einen politischen Feind des Hauses Atreides. Aufgrund des Zeitpunkts vermute ich, dass der alte Herzog für seine Unterstützung des Hauses Vernius bestraft werden sollte.«
»Das ist auch mein Verdacht«, murmelte Rhombur. Der Sohn von Dominic Vernius wirkte inzwischen recht erwachsen, ein gefestigter und beherrschter Mann, nicht mehr der nette Schulkamerad, der ein verhätscheltes Leben geführt hatte. Seit er nach Caladan gekommen war, hatte er abgenommen und seine Muskeln entwickelt. Seine Augen hatten einen steinernen Schimmer angenommen.
»Aber kein Haus hat uns die Kanly erklärt«, sagte Leto. »Im uralten Ritual der Vendetta sind strenge Vorschriften zu befolgen, ist es nicht so, Thufir?«
»Aber wir dürfen nicht davon ausgehen, dass sich alle Feinde des alten Herzogs an diese Höflichkeitsgebote halten«, sagte Hawat. »Wir müssen sehr vorsichtig sein.«
Rhombur wurde rot, als er an die Vertreibung seiner Familie von Ix dachte. »Dann gibt es noch jene, die die Vorschriften verbiegen, bis sie ihren Bedürfnissen entsprechen.«
»Zweithöchste Wahrscheinlichkeit«, fuhr der Mentat fort. »Der Anschlag könnte Herzog Paulus persönlich gegolten haben und nicht dem Haus Atreides – das Resultat einer privaten Vendetta oder einer persönlichen Verletzung. Der Täter könnte beispielsweise ein Bittsteller von Caladan sein, der nicht mit der vom Herzog getroffenen Entscheidung einverstanden war. Obwohl dieser Mord galaktische Konsequenzen nach sich zieht, könnte die Ursache einen durchaus trivialen Anlass haben.«
Leto schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben. Ich habe erlebt, wie sehr das Volk meinen Vater geliebt hat. Niemand von seinen Untertanen würde sich gegen ihn wenden, nicht ein einziger.«
Hawat ließ sich nicht beirren. »Herzog, Sie sollten weder die Stärke von Liebe und Treue überschätzen noch die Macht des Hasses unterschätzen.«
»Äh ... welche Möglichkeit ist wahrscheinlicher?«, erkundigte sich Rhombur.
Hawat blickte seinem Herzog in die Augen. »Ein Angriff, um das Haus Atreides zu schwächen. Der Tod des Patriarchen hat Sie in eine sehr verletzbare Position gebracht, Mylord. Sie sind jung und unerfahren.«
Leto holte tief Luft, konnte sich aber beherrschen, während er Hawat weiter zuhörte.
»Ihre Feinde werden das Haus Atreides nun als instabil betrachten und könnten etwas gegen uns unternehmen. Ihre Verbündeten könnten Sie als problematisch einschätzen und ihre Unterstützung verringern. Dieser Zeitpunkt ist für Sie äußerst gefährlich.«
»Die Harkonnens?«, fragte Leto.
Hawat hob die Schultern. »Möglicherweise. Oder einer ihrer Verbündeten.«
Leto presste die Hände an die Schläfen und atmete noch einmal tief durch. Er sah, dass Rhombur ihn besorgt musterte.
»Setzen Sie Ihre Nachforschungen fort, Thufir«, sagte Leto. »Da wir jetzt wissen, mit welchen Mitteln der salusanische Stier manipuliert wurde, schlage ich vor, dass Sie das Personal der Ställe vernehmen.«
* * *
Der Stalljunge Duncan Idaho stand vor seinem neuen Herzog, verbeugte sich und war bereit, seinen Treueschwur zu erneuern. Die Diener hatten ihn gesäubert, obwohl er immer noch Stallkleidung trug. Das ruinierte Kostüm, das man ihm für den schicksalhaften Stierkampf gegeben hatte, war entsorgt worden. Sein lockiges Haar war in Unordnung.
Ein glühender Zorn brannte in ihm. Er war überzeugt, dass sich Herzog Paulus' Tod hätte vermeiden lassen, wenn man nur auf ihn gehört hätte. Seine Trauer war tief, und er quälte sich mit dem Gedanken, ob er mehr hätte tun müssen. Hätte er hartnäckiger sein sollen? Hätte er mit jemand anderem als Stallmeister Yresk sprechen sollen? Er fragte sich, ob er offenbaren sollte, was er zu tun versucht hatte, aber vorläufig hielt er seine Zunge im Zaum.
Leto Atreides, der zu klein für den Stuhl des Herzogs wirkte, schien Duncan mit dem Blick seiner grauen Augen aufspießen zu wollen. »Junge, ich erinnere mich, wie du dich um eine Stelle in unserem Haushalt beworben hast.« Sein Gesicht sah schmaler und viel älter aus, seit sich Duncan zum ersten Mal im Audienzsaal der Burg aufgehalten hatte. »Kurz nachdem ich mit Rhombur und Kailea von Ix geflohen war.«
Beide Vernius-Flüchtlinge hielten sich ebenfalls im Saal auf, genauso wie Thufir Hawat und ein Wachkontingent. Duncan blickte zu ihnen hinüber, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem jungen Herzog zu.
»Ich habe die Geschichten deiner Flucht vor den Harkonnens gehört, Duncan Idaho«, fuhr Leto fort. »Wie du Folter und Gefängnis erdulden musstest. Mein Vater vertraute dir, als er dir eine Stellung hier in Burg Caladan gab. Du weißt, wie ungewöhnlich es für ihn war, so etwas zu tun?« Er beugte sich auf dem Stuhl aus dunklem Holz vor.
Duncan nickte. »Ja, Mylord.« Sein Gesicht errötete schuldbewusst, weil er seinen Wohltäter nicht hatte retten können. »Ja, ich weiß es.«
»Doch irgendjemand hat den salusanischen Stieren kurz vor dem letzten Kampf meines Vaters etwas gegeben – und du gehört zu denen, die sich um die Tiere gekümmert haben. Du hattest ausreichend Gelegenheit dazu. Warum habe ich dich nicht im paseo gesehen, als alle anderen durch die Arena marschiert sind? Ich kann mich erinnern, nach dir Ausschau gehalten zu haben.« Seine Stimme wurde deutlich strenger. »Duncan Idaho, hat man dich in der Maske des unschuldigen und hasserfüllten kleinen Jungen als geheimen Assassinen im Auftrag der Harkonnens hierher geschickt?«
Duncan wich entgeistert zurück. »Nein, Mylord!«, rief er. »Ich wollte alle anderen warnen. Ich hatte schon Tage vorher bemerkt, dass etwas mit den Stieren nicht stimmte. Ich habe Stallmeister Yresk immer wieder darauf hingewiesen, aber er wollte nichts unternehmen. Er hat mich nur ausgelacht. Ich habe mich sogar mit ihm gestritten. Deshalb konnte ich nicht am paseo teilnehmen. Ich wollte selbst zum alten Herzog gehen und ihn warnen, aber dann hat mich der Stallmeister für die Dauer des Kampfes in einen dreckigen Käfig gesperrt.« Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Die schöne Kleidung, die Ihr Vater mir gab, war völlig ruiniert. Ich habe nicht einmal gesehen, wie er in der Arena ums Leben kam, sondern es erst später erfahren.«
Leto richtete sich überrascht im großen Stuhl seines Vaters auf. Er blickte sich zu Hawat um.
»Ich werde es herausfinden, Mylord«, sagte der Mentat.
Leto musterte den Jungen. Duncan Idaho schien keine Furcht zu zeigen, nur aufrichtige Trauer. Dann glaubte Leto, im jungen Gesicht ausschließlich Ehrlichkeit und eine tief empfundene Ergebenheit zu entdecken. Er hatte den Eindruck, dass dieser neunjährige Flüchtling wirklich froh zu sein schien, zum Haus Atreides zu gehören, auch wenn er nur die erniedrigende, undankbare Arbeit eines Stalljungen verrichten durfte.
Leto konnte noch nicht auf eine jahrelange Erfahrung in der Beurteilung von Menschen zurückblicken, die ihn zu täuschen versuchten, aber sein Gefühl sagte ihm, dass er diesem Jungen vertrauen konnte. Duncan war zäh, intelligent und wild – aber nicht falsch.
Sei vorsichtig, Herzog Leto, sagte er sich. Das Imperium hat zahlreiche Tricks hervorgebracht, und das hier könnte einer davon sein. Dann dachte er an den alten Stallmeister. Yresk hatte seinen Posten in Burg Caladan seit der arrangierten Hochzeit seiner Eltern innegehabt ... Konnte ein solcher Plan über einen so langen Zeitraum gekeimt sein? Ja, es wäre denkbar. Obwohl ihn die Konsequenzen erzittern ließen.
Ohne Begleitung betrat Lady Helena mit verstohlenen Schritten den Audienzsaal. Tiefe Schatten umrahmten ihre Augen. Leto sah zu, wie seine Mutter in den leeren, für sie reservierten Stuhl an seiner Seite glitt. Kerzengerade und schweigend musterte sie den Jungen, der vor ihnen stand.
Wenige Augenblicke später wurde Stallmeister Yresk recht unsanft von Atreides-Wachen in den Saal geführt. Sein weißer Haarschopf war zerrauft, und seine hervorquellenden Augen wirkten unsicher und noch größer als sonst. Als Thufir Hawat noch einmal Duncans Geschichte zusammengefasst hatte, lachte der Stallmeister nur und ließ in übertriebener Erleichterung die knochigen Schultern sinken. »Wollen Sie ernsthaft nach all den Jahren, die ich Ihnen gedient habe, dieser Stallratte – diesem Harkonnen – mehr Glauben schenken als mir?« Er verdrehte entrüstet die Augen. »Ich bitte Sie, Mylord!«
Übertriebene Dramatik, dachte Leto. Hawat hatte es ebenfalls bemerkt.
Yresk legte einen Finger an die Lippen, als dächte er über eine Möglichkeit nach. »Wo sie davon sprechen, Mylord – es wäre durchaus denkbar, dass der Junge selbst den Stier vergiftet hat. Ich konnte ihn schließlich nicht ständig im Auge behalten.«
»Das ist eine Lüge!«, rief Duncan. »Ich wollte es dem Herzog sagen, aber Sie haben mich in einen Käfig gesperrt. Warum haben Sie nicht versucht, den Stierkampf zu verhindern? Ich habe Sie immer und immer wieder gewarnt – und jetzt ist der Herzog tot.«
Hawat hörte zu, den Blick seiner Augen in die Ferne gerichtet, die Lippen feucht und von einem frischen Schluck Sapho-Saft gerötet. Leto sah, dass er sich wieder im Mentaten-Modus befand und alle Daten durchging, die den jungen Duncan sowie Yresk betrafen.
»Nun?«, fragte Leto den Stallmeister. Er zwang sich dazu, nicht an die alten Zeiten zu denken, als der schlaksige Mann ständig nach Schweiß und Dung gerochen hatte.
»Es mag sein, dass die Stallratte irgendetwas geplappert hat, Mylord, aber der Junge hatte einfach nur Angst vor den Stieren. Ich kann doch keinen Stierkampf absagen, nur weil ein Kind glaubt, die Tiere seien zu furchteinflößend.« Er schnaufte. »Ich habe dieses Balg in meine Obhut genommen, ihm jede erdenkliche Chance geboten ...«
»Aber Sie haben nicht auf ihn gehört, als er Sie wegen der Stiere warnen wollte – und nun ist mein Vater tot«, sagte Leto, dem auffiel, dass Yresk plötzlich Angst zu bekommen schien. »Warum haben Sie so gehandelt?«
»Mögliche Extrapolation«, sagte Hawat. »Als Diener der Lady Helena hat Yresk sein ganzes Leben lang für das Haus Richese gearbeitet. Richese hatte in der Vergangenheit gute Beziehungen zu den Harkonnens und stand im feindlichen Verhältnis zu Ix. Ihm ist vielleicht nicht einmal bewusst, welche Rolle er im großen Ganzen spielt, oder ...«
»Was? Das ist absurd!«, empörte sich Yresk und fuhr sich durchs weiße Haar. »Ich habe nichts mit den Harkonnens zu schaffen.« Er warf Lady Helena einen flüchtigen Blick zu, die diesen jedoch nicht erwiderte.
»Lassen Sie meinen Mentaten ausreden!«, ermahnte Leto ihn.
Thufir Hawat studierte jetzt Lady Helena, die ihn mit eisigem Blick betrachtete und dann ihren Sohn ansah. Er fuhr mit seiner Einschätzung der Lage fort: »Zusammenfassung: Die Heirat zwischen Paulus Atreides und Helena aus dem Hause Richese war gefährlich, selbst in der damaligen Zeit. Der Landsraad sah darin eine Möglichkeit, die Richese-Harkonnen-Beziehungen zu schwächen, während Graf Ilban Richese die Vermählung als allerletzte Möglichkeit akzeptierte, einen Teil seines Familienvermögens zu retten, während sie bereits im Begriff waren, Arrakis zu verlieren. Der Vorteil für das Haus Atreides bestand darin, dass Herzog Paulus zum offiziellen MAFEA-Direktor wurde und volles Stimmrecht im Forum des Landsraads erhielt – etwas, das diese Familie mit anderen Mitteln niemals erreicht hätte. Doch als Lady Helena mit der Hochzeitsgesellschaft auf Caladan eintraf, war vielleicht nicht die komplette Dienerschaft zur vollen Loyalität gegenüber den Atreides bereit. Es könnte Kontakte zwischen Harkonnen-Agenten und Stallmeister Yresk gegeben haben ... ohne dass Lady Helena etwas davon ahnte, versteht sich.«
»Das ist eine sehr gewagte Mutmaßung, selbst für einen Mentaten«, sagte Yresk. Er blickte sich hilfesuchend im Saal um, wie Leto bemerkte, zu allen Anwesenden – außer zu Lady Helena, deren Blick er nun bewusst auszuweichen schien. Sein Adamsapfel hüpfte an der dünnen Kehle auf und ab.
Leto starrte seine Mutter an, die schweigend neben ihm saß. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Durch die geschlossene Schlafzimmertür hatte Leto die Worte gehört, mit denen sie Paulus' politisches Verhältnis zur Vernius-Familie kritisiert hatte. Du warst es, der hier die Entscheidung getroffen hat, Paulus! Und es war eine falsche Entscheidung. Die Worte hallten laut in Letos Kopf nach. Das wird dich und dein Haus teuer zu stehen kommen!
»Äh ... niemand macht sich allzu viele Gedanken um einen Stallmeister, Leto«, bemerkte Rhombur leise.
Aber Leto beobachtete immer noch seine Mutter. Stallmeister Yresk war als Teil von Helenas Hochzeitsgefolge der Richeses nach Caladan gekommen. Konnte sie sich an ihn gewandt haben? Welchen Einfluss hatte sie auf diesen Mann?
Seine Kehle wurde trocken, als sich in seinem Kopf plötzlich alle Einzelteile zusammenfügten. Diese Art von Erkenntnis musste dem ähnlich sein, was ein Mentat erlebte. Sie hatte es getan! Lady Helena hatte persönlich die Hebel in Bewegung gesetzt. Möglicherweise hatte sie Unterstützung von außen erhalten, vielleicht sogar durch die Harkonnens ... und mit ziemlicher Sicherheit war es Yresk gewesen, der die Schmutzarbeit ausgeführt hatte.
Aber sie hatte die Entscheidung getroffen, Paulus zu bestrafen. Für Leto gab es daran nicht mehr den geringsten Zweifel. Mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn würde sie nun über Caladan herrschen und die Entscheidungen treffen, die sie für die besten hielt.
Leto, mein Sohn, jetzt bist du der Herzog Atreides. Das waren die Worte seiner Mutter gewesen, die sie unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes gesprochen hatte. Eine seltsame Reaktion für eine Frau, die unter dem Schock der Trauer stand.
»Bitte hören Sie damit auf!«, sagte Yresk händeringend. »Mylord, ich würde niemals das Haus verraten, dem ich diene.« Er zeigte auf Duncan. »Aber Sie wissen, dass diese Stallratte ein Harkonnen sein muss. Er ist vor gar nicht langer Zeit von Giedi Primus zu uns gekommen.«
Lady Helena saß stocksteif da, als sie endlich sprach, mit gebrochener Stimme, als hätte sie sie in den vergangenen Tagen kaum benutzt. Sie blickte ihren Sohn herausfordernd an. »Du kennst Yresk seit frühester Kindheit, Leto. Willst du ein Mitglied meines Gefolges anklagen? Mach dich nicht lächerlich.«
»Noch ist niemand angeklagt worden, Mutter«, sagte Leto mit äußerster Vorsicht. »Bislang wird nur über Möglichkeiten diskutiert.« Als Oberhaupt des Hauses Atreides musste er sich große Mühe geben, sich von seiner Kindheit zu distanzieren, von der Zeit, als er den weißhaarigen Stallmeister aufgeregt gefragt hatte, ob er die Stiere sehen dürfe. Yresk hatte ihm beigebracht, wie man sich vorsichtig bestimmten Tieren näherte und auf älteren Bullen ritt, wie man Knoten machte und Geschirr anlegte.
Aber das staunende Kind von damals war jetzt der neue Herzog des Hauses Atreides.
»Wir müssen die Indizien untersuchen, bevor wir Schlussfolgerungen ziehen können.«
Yresk wurde sichtlich von widerstrebenden Gefühlen bewegt, und plötzlich hatte Leto Angst vor dem, was der Stallmeister sagen mochte. Wenn er in die Enge gedrängt wurde und um sein Leben fürchtete, würde er dann Helena hineinziehen? Die Wachen im Saal verfolgten aufmerksam die Gespräche. Kailea beobachtete alles mit wachem Verstand. Andere würden zweifellos alles weitertragen, was hier geäußert wurde. Der Skandal würde ganz Caladan erschüttern, vielleicht sogar den Landsraad.
Selbst wenn seine Mutter den Zwischenfall während des Stierkampfes initiiert hatte, selbst wenn Yresk auf Befehl gehandelt hatte – oder weil er bestochen oder irgendwie erpresst worden war –, wollte Leto um jeden Preis vermeiden, dass der Mann hier und jetzt ein Geständnis ablegte. Er wollte die Wahrheit erfahren, aber unter vier Augen. Wenn bekannt wurde, dass Lady Helena für den Tod des alten Herzogs verantwortlich war, würde diese Enthüllung das Haus Atreides zerreißen. Seine Autorität als Herzog würde einen nicht wieder gutzumachenden Schaden erleiden ... und ihm bliebe keine andere Wahl, als das härteste Urteil über seine eigene Mutter zu sprechen.
Er erschauderte, als er an das Drama um Agamemnon und an den Fluch des Atreus dachte, der seine Familie seit dem Morgengrauen der Geschichte verfolgt hatte. Er atmete tief durch, weil er jetzt stark sein musste.
»Tu, was du tun musst, mein Junge«, hatte sein Vater gesagt. »Dann kann dir niemand einen Vorwurf machen, solange du die richtigen Entscheidungen triffst.«
Aber was war jetzt die richtige Entscheidung?
Helena stand auf und sprach im vernünftigen Tonfall einer Mutter zu Leto. »Der Tod meines Gatten war kein Verrat – sondern eine Strafe Gottes.« Sie deutete auf Rhombur und Kailea, die die Vorgänge wie betäubt verfolgten. »Mein geliebter Herzog wurde wegen seiner Freundschaft zum Haus Vernius bestraft, weil er erlaubt hat, dass diese Kinder in unserer Burg leben. Ihre Familie hat die Gebote verletzt, und Paulus hat sie trotzdem willkommen geheißen. Mein Gatte starb durch seinen Stolz – nicht durch einen Stallmeister. So einfach ist das.«
»Ich habe jetzt genug gehört, Mutter«, sagte Leto.
Helena warf ihm einen empörten, vernichtenden Blick zu, als wäre er ein dummes Kind. »Ich habe noch nicht zu Ende gesprochen. Die Aufgaben eines Herzog umfassen so viele Dinge, die du noch gar nicht verstehen kannst ...«
Leto blieb sitzen und legte alle Autorität, die er aufzubringen imstande war, in seine Stimme und Haltung. »Ich bin der Herzog, Mutter, und du wirst jetzt schweigen, sonst lasse ich dich gewaltsam von den Wachen aus diesem Saal entfernen und in einen Turm sperren.«
Helena erblasste, und ihre Augen blickten rastlos, als sie versuchte, angesichts dieses Schocks nicht die Beherrschung zu verlieren. Sie konnte nicht fassen, dass ihr eigener Sohn so etwas zu ihr gesagt hatte. Aber sie war klug genug, ihn nicht weiter zu reizen. Wie üblich bemühte sie sich, den äußeren Anschein zu wahren. Einen ähnlichen Ausdruck hatte sie des Öfteren im Gesicht des alten Herzogs bemerkt, so dass sie es nicht wagte, dem Sturm zusätzliche Nahrung zu geben.
Obwohl es besser für ihn gewesen wäre, wenn er geschwiegen hätte, schrie Yresk: »Leto, Junge, du kannst doch dieser vaterlosen Stallratte nicht mehr Glauben schenken als mir ...«
Leto betrachtete den aufgeregten, wie eine Vogelscheuche aussehenden Mann und verglich ihn mit dem selbstbewussten Auftreten des jungen Duncan. Auf Yresks hagerem Gesicht stand Schweiß. »Ich halte ihn in der Tat für glaubwürdiger, Yresk«, sagte Leto nachdrücklich. »Und nennen Sie mich nie wieder ›Junge‹!«
Hawat trat vor. »Durch eine gründliche Vernehmung könnten wir zu weiteren Erkenntnissen gelangen. Ich werde den Stallmeister persönlich befragen.«
Leto sah den Mentaten an. »Das wäre das Beste, Thufir. Sie führen die Befragung allein durch.« Er schloss für einen winzigen Moment die Augen und schluckte mühsam. Später musste er Hawat eine Nachricht schicken, dass der Stallmeister die Vernehmung auf keinen Fall überleben durfte ... damit keine weiteren unangenehmen Wahrheiten nach außen drangen. Der Mentat nickte kaum merklich und gab Leto damit zu verstehen, dass ihm einige der unausgesprochenen Konsequenzen bewusst waren. Jede Information, die Hawat in Erfahrung bringen konnte, würde ein Geheimnis bleiben, das nur er und sein Herzog teilten.
Yresk heulte auf, als die Wachen seine dünnen Arme ergriffen. Bevor der Stallmeister irgendetwas hinausschreien konnte, hielt Hawat ihm mit einer Hand den Mund zu.
Dann – als hätte man gezielt den Zeitpunkt der größten Verwirrung abgepasst – öffneten die Wachen die Tür zum Audienzsaal und ließen einen Mann in Uniform eintreten. Er marschierte herein, die Augen nur auf Leto gerichtet, der am anderen Ende des Saals saß. Sein elektronisches Identifikationsabzeichen wies ihn als offiziellen Kurier aus, der soeben mit einem Leichter auf dem Raumhafen von Cala City gelandet war. Leto erstarrte, weil er wusste, dass dieser Mann unmöglich gute Neuigkeiten bringen konnte.
»Herzog, ich habe eine furchtbare Nachricht zu überbringen.« Die Worte des Kuriers lösten einen Schock unter allen Anwesenden aus. Die Wachen, die Yresk ergriffen hatten, blieben stehen, doch Hawat bedeutete ihnen, so schnell wie möglich den Saal zu verlassen.
Der Bote trat bis vor den Stuhl des Herzogs und nahm Haltung an. Er atmete ein paarmal tief durch, um sich bereit zu machen. Da er die derzeitige Lage auf Caladan kannte – die Einführung eines neuen Herzogs und die Anwesenheit der ixianischen Flüchtlinge –, wählte er seine Worte mit Bedacht.
»Es ist meine Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Lady Shando, die von Kaiser Elrood IX. als Abtrünnige und Verräterin gebrandmarkt wurde, aufgespürt und auf Anweisung des Imperators durch Sardaukar auf Bela Tegeuse exekutiert wurde. Alle Mitglieder ihres Gefolges wurden ebenfalls getötet.«
Rhombur taumelte, als hätte man ihm einen Schlag versetzt, dann brach er auf den Marmorstufen neben dem Stuhl des Herzogs zusammen. Kailea, die die Vorgänge bislang schweigend verfolgt hatte, begann zu schluchzen. Tränen strömten aus ihren smaragdgrünen Augen. Sie hielt sich an einer Steinsäule fest und schlug mit der zarten Faust dagegen, bis ihr Blut über die Finger lief.
Helena blickte ihren Sohn traurig an und nickte. »Siehst du, Leto? Die nächste Strafe. Ich hatte Recht. Die Ixianer und alle, die ihnen helfen, sind verflucht.«
Leto erwiderte ihren Blick voller Hass und befahl den Wachen: »Bitte bringen Sie meine Mutter in ihre Gemächer und weisen Sie ihre Diener an, alles einzupacken, was sie für eine längere Reise benötigt.« Nur mit Mühe konnte er verhindern, dass seine Stimme zitterte. »Ich denke, angesichts der Unruhe der vergangenen Tage sollte sie die Gelegenheit erhalten, sich gründlich zu entspannen, irgendwo sehr weit entfernt von hier.«